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THYRA SCHMIDT bei DI.VITRINE

Der Stempel ist gerade noch lesbar. Am 23.9.1992 wurde eine Postkarte für Thyra Schmidt, geb. Früchtenicht, im Postbüro Westerland (Sylt) entwertet. Die Bildseite zeigt einen malerischen Strand an der „schönen Nordseeinsel Sylt“. Im Vordergrund ein verdächtig gut platziertes Blumenbeet; in der Mitte ein ach so typisches, stattliches Strohdachhaus; im Hintergrund der belebte Nordsee-Himmel. Die Karte ist anonym. Es ist eine Liebeskarte.

Die Karte eines verliebten Menschen, der es nicht wagt, die Frau seiner Träume persönlich zu begegnen und anzusprechen. In gedrungener Schrift, Zeile für Zeile, bekommen die fragile Scheu und die zitternde Verehrung eines Unbekannten ihren minimalen Ausdrucksraum. Eine bescheidene Postkarte – also letztendlich etwas wie ein offener Brief – als erste, fieberhafte Kontaktaufnahme. Ein Gedicht, wie ein leiser Ruf. Eine Hoffnung – Flaschenpost. Es ist rührend. Es ist schön. Es ist poetisch. Es ist ein wenig kitschig.

Es ist publik. Es ist groß. Es ist stark beleuchtet und unter Glas. Es brüllt. Es ist in einer Passage ausgestellt, die zu den Gleisen der S-Bahn-Station Bilk führt. Es ist so vergrößert worden, dass jeder anonyme Passant die anonyme Karte gut lesen kann. Jeder kann an dieser angefangenen Liebesgeschichte teilnehmen. Jeder kann in das Herz und in die Seele eines schüchternen Menschen eindringen. Jeder wird zu einem potenziellen Voyeur gemacht. Wie in den Aktionen und Installationen von Sophie Calle, wird jeder Mr. Nobody in die intime Sphäre der Künstlerin eingeladen und kann sich deren Romanze aneignen.

Aber im Gegensatz zu Sophie Calle, die die Ebenen des Intimen und des Privaten noch mit fiktiven Elementen verzerrt, haben wir es hier nicht mit einem Fake zu tun. Thyra Schmidt hat diese Postkarte tatsächlich erhalten. Sie war damals gerade 17 Jahre alt und lebte in Norddeutschland. Nach dieser Karte folgten noch einige, ähnliche Briefe, genauso leidenschaftlich und anonym. Irgendwann wurde der Verliebte entblößt – und wer es genau wissen will, kann auf Nachfrage erfahren, dass es zu einer Liaison zwischen Schmidt, geb. Früchtenicht, und dem Verfasser der Karte kam.

Fast zwanzig Jahre später wird die persönliche Geschichte schamlos unter das Volk gebracht. Es ist schamlos, weil  – anders als die massmedialen Liebesgeschichten, die zum modernen Opium der Bild-, Gala- und Brigitte-Leser geworden sind – es kein Glanz und kein Glamour in dieser Karte stecken. Es ist auch keine schmutzige Story, keine schlüpfrig-geile Enthüllung, die das kranke Bedürfnis der Massen nach einer angeblichen Transparenz von „Prominenten“ stillen würde. Nein; es ist hier gerade das Romantische, Zerbrechliche und Vertraute, das Authentische und Nicht-Entfremdete, das in die Agora geworfen wird.

Das Künstlerpaar Dagmar Keller und Martin Wittwer hat Thyra Schmidt in den Bilker Bahnhof eingeladen und damit eine für diesen stark frequentierten Durchgangsort kongeniale Position gefunden. Die beiden großen Vitrinen, die vom Kulturamt verwaltet werden, werden tagtäglich von tausenden Pendlern mehr oder minder wahrgenommen. Das Licht ist hier entweder zu grell oder ungenügend, die Materialien lieblos und dreckig, die Raumabschnitte ausschließlich funktional gedacht. Bis auf einige Clochards und zwielichtige Gestalten, die sich zwischen Trinkhalle und Fotoautomat gelegentlich aufhalten, sind die Körper stets in Bewegung und die Blicke ausweichend. Es ist Öffentlichkeit in ihrem gnadenlosen Zustand. Die zarte und leise Liebeserklärung an der Wand ist eine Perle in der Gosse. Es ist die dezidierte Geste einer Künstlerin, die das Intime zu einer res publica macht. Wenn der Künstler sich in einem ständigen Prozess der öffentlichen Schaustellung befindet, ist derseelische Streeptease von Schmidt eine konsequente – wenn auch in ihrer Radikalität leicht störende – Entscheidung.

di.vitrine
im S-Bahnhof Bilk
Eröffnung am 19.5.2011
Ausstellung vom 20.5.-2.9.2011
24 Stunden eröffnet